Gleich zu Beginn der Hinweis, dass die Quellenlage in Bezug auf die Vita von Gottfried Hagen äußerst dürftig ist. Dies ist einer Krankheit geschuldet, die während des Mittelalters in Europa ganz allgemein grassierte. Hatte die Kirche, die zu der Zeit vor allem auch weltliche Macht war, doch die Parole ausgegeben, Schreiben sei Teufelswerk. Den meisten Menschen galt es sogar als ehrenrührig, lesen und schreiben zu können. Einzig die lateinische Sprache, der Code der Bibel, stellte eine Ausnahme dar. In diesem Buch war schon alles der Niederschrift Würdige gesagt worden.

O Felix Agrippina Nobilis Romanorum Colonia

Gottfrieds Leben kann also in weiten Teilen nur „über Bande“ nachvollzogen werden, etwa nach dem Muster: „In Köln wurde dann und dann hier und da ein Autograph verfasst, der mit großer Sicherheit Gottfried zugeordnet werden kann? Also muss Gottfried dann und dann hier und da gewesen sein. Außerdem muss er Geldsorgen gehabt haben, sonst hätte er das nicht gemacht, weil er doch eigentlich mit diesem und jenem verbandelt war.“ Und so weiter.

Gottfried Hagen und die Colonia Ulpia Traiana

Gottfried Hagen (*1230) stammte aus Xanten, einer Stadt also, die in ihren Ursprüngen sehr viele Ähnlichkeiten mit Köln aufzuweisen hatte.

Auch Xanten hatte sich aus einem römischen Legionslager entwickelt, das als Ausgangspunkt für Feldzüge in das rechtsrheinische Germanien diente. Die erste Zivilbevölkerung der daraus hervorgegangenen Colonia Ulpia Traiana waren umgesiedelte Sugambrer (in Köln waren es die Ubier), später wuchs die Stadt durch ehemalige Legionäre und deren Angehörige zum zweitwichtigsten Handelsposten der Provinz. Unnötig zu erwähnen, welcher der wichtigste war.

Im Jahr 1230, als Gottfried geboren wurde, hatte Xanten seit zwei Jahren die Stadtrechte. Es gehörte zum ottonischen Reich und beherbergte in seiner Stadtmitte das durch Grundbesitz und Kirchenschätze bedeutende Stift von Sankt Viktor (Sanctos – Xantum – Xanten). Seit der Kölner Erzbischof Bruno im Jahr 953 zum Herzog von Lothringen ernannt worden war, stand Xanten unter kölnischer Obrigkeit.

Gottfried war ein unehelicher Sohn des Geistlichen Gerhard, Mitglied des Patriziergeschlechts der Vetscholder, zu dem Gottfried, ebenso wie seine Brüder, allerdings nie Kontakt hatte und das ihn auch nicht unterstützte.

Der Junge wuchs also in einer Großstadt auf, die von der weltlichen Macht der Geistlichkeit geprägt war. Und als Patriziersohn verfügte er nicht nur über eine Erziehung in feinen Sitten, sondern auch im Ränkespiel. Die Bedeutung dieser Tatsachen ist nicht zu unterschätzen.

Die Ausbildung zum „Artisten“

Gottfried ging nach Paris, schrieb sich dort in die Artistenfakultät ein und betrieb die fundamentalen Studien der Freien Künste. Diese „Freien Künste“ (Artes) konnte nur studieren, wer frei davon war, für seinen Broterwerb arbeiten zu müssen – daher der Name. Wir können also davon ausgehen, dass Gottfried von irgendwem Geld erhielt.

Ein damaliger Artist war keiner, der zur Belustigung anderer Leute auf dem Hochseil tanzte oder anderweitig Maulaffen feilhielt, sondern jemand, der sich auf das Studium entweder der Theologie, der Rechtswissenschaft oder der Medizin vorbereitete.

In Paris erhielt Gottfried tiefe Einblicke in die lateinische Grammatik, die Kunst der Rhetorik sowie die Spitzfindigkeiten von Logik und Dialektik, die ihm später in Köln von sehr großem Nutzen sein sollten. Anschließend – dies ist ebenfalls sehr wichtig für seine weitere Karriere – wandte er sich der Jurisprudenz zu, also der Rechtswissenschaft.

Wegen seines Magistertitels, den er in Paris erwarb, wurde er auch Meister Godefrit genannt.

Köln – Metropolis des Mittelalters

Als Gottfried um 1260 nach Köln kam, brummte die Stadt. Mit schätzungsweise 400 Hektar Fläche und 40.000 Einwohnern war Köln auf dem Gebiet, das wir heute als „Deutschland“ bezeichnen würden, die unbestrittene Metropole. Neben Mailand und Venedig gehörte es zu den großen europäischen Handelszentren.

Kölner Stadtschreiber Gottfried Hagen Godefried Stadtplan

A Plan of the City of Cologne, 1800, John Stockdale. Foto: Wikipedia

Seit einiger Zeit durfte die Colonia, ebenso wie Jerusalem, Konstantinopel und Rom, sich selbst als „Heilige Stadt“ bezeichnen: „Sancta Colonia Dei Gratia Romanae Ecclesiae Fidelis Filia – Heiliges Köln von Gottes Gnaden, der römischen Kirche getreue Tochter“. Im Volksmund schlicht „Dat hillige Coellen“.

Seit dem 7. Mai 1259 gab es in Köln das Stapelrecht, das alle den Rhein befahrenden Händler verpflichtete, ihre Waren in Köln auszuladen und zu verkaufen oder sich durch die Entrichtung eines Stapelgeldes von diesem Zwang zu befreien. Das spülte viel Geld in die Stadtmauern, die zu jener Zeit gewaltiger waren als die von Paris.

Nachdem Rainald von Dassel 1164 die Reliquien der Heiligen Drei Könige an den Rhein gebracht hatte, strömten die Pilger in so großer Zahl in die Stadt, dass der alte Dom ‑ schlagartig eine der berühmtesten Wallfahrtskirchen Europas ‑ zu klein geworden war. Daher hatte man 1248 damit begonnen, eine gotische Kathedrale zu bauen, die dieser Bedeutung in jeder Hinsicht gerecht werden sollte.

Handwerker, Reisende, Händler, Kleriker, Künstler, Prostituierte und Beutelschneider, wohin das Auge blickte.

Und es gärte in der Stadt. Schon 1047 hatten die Kölner gegen die weltliche Macht des Erzbischofs aufbegehrt. Zwischenzeitlich hatten sie sogar das Befestigungsrecht für ihre Stadt errungen, was als wichtiger Schritt auf dem Weg zur Freien Reichsstadt galt. Und im Jahr 1262 erstürmten die Patrizier den Bayenturm und rebellierten erneut gegen den Erzbischof. Allerdings sollte es noch bis 1268 dauern, bis dieser aus der Stadt vertrieben wurde.

Gottfrieds erste Jahre in Köln

Gottfried war in Köln ein Immi (genau wie ich!). Und weil er ein ziemlich pfiffiges Kerlchen war (ich wollte, auch dies wäre eine unserer Gemeinsamkeiten ‑ aber ach!), machte sich Meister Godefrid in Köln schon bald einen Namen als Spezialist für die neumodischen deutschsprachigen Urkunden, die sich anschickten, den bislang üblichen Kontrakten in Latein den Rang abzulaufen.

In diesem Zusammenhang darf übrigens von einer Zeitenwende gesprochen werden, wie auch die Tatsache, dass Gottfried sich der Rechtswissenschaft und nicht der Theologie zugewandt hatte, durchaus ein Hinweis darauf ist, dass sich die politischen Kräfte im damaligen Europa zu verlagern begannen: weg vom Diktat des Glaubens, hin zur Logik und Empirie der Wissenschaften.

Dies galt insbesondere für Köln, wo die Patriziergeschlechter unter Führerschaft der Overstolzen ein permanentes Armdrücken mit der katholischen Kirche in Gestalt des Erzbischofs veranstalteten. Es ging immerhin um die Macht in der damals größten und bedeutendsten Stadt Europas.

Der Magister aus Xanten ließ sich von seinem Instinkt leiten und arbeitete für die Kaufleute. Für sie verfasste er juristische Dokumente, unter anderem einen Pakt zwischen dem Rat der Stadt Köln und dem Grafen von Berg und bürgerliche Rentenverträge, die nach italienischem Muster aufgesetzt wurden.

Leider wissen wir nicht ganz genau, was dann geschah, aber Gottfried muss wohl aus Geldnot gehandelt haben, als er kurzfristig die Seiten wechselte und erst eine Urkunde für einen Bischof aufsetzte und dann als Schulmeister von Sankt Maria im Kapitol arbeitete. In dieser Zeit lernte er seine Geliebte kennen und zeugte mit ihr, ganz nach dem Vorbild seines eigenen Vaters, einen unehelichen Sohn.

Allzu starr waren die Linien zwischen den Patriziern und den Kirchenherren ja nicht. Und so verschaffte ihm die Familie seiner Geliebten die Position des Schreinschreibers von Sankt Peter und Sankt Aposteln. Er war nun also damit beauftragt, im Grundbuch dieser Kirchspiele deren Liegenschaften zu verwalten.

In dieser Position hätte er satt und zufrieden ein ruhiges und langweiliges Leben bis zu seinem unrühmlichen Ende führen können und niemand würde sich heute mehr an ihn erinnern.

Aber dann entwickelten sich die Ereignisse in der Rheinmetropole auf eine Weise, dass der Meister Godefrit sich veranlasst sah, seine außerordentlichen Talente zu reaktivieren und seinem Leben eine neue Wendung zu geben.

Teil 3: Das „Boich van der stede Colne“

Teil 1: Was ist eigentlich ein „Stadtschreiber“?

Text: -bevi

Beitragsfoto: Wikimedia Commons. Ansicht von Köln 1531: Verkleinerte Wiedergabe der Hauptpartie des im Original 352 cm breiten Holzschnitts von Anton Woensam aus Worms. eingescannt aus: Henne am Rhyn, Dr. Otto: Kulturgeschichte des deutschen Volkes, Erster Band, Berlin, 1897., S. 387.

 

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